Bocksbart Omelette
© Björn Scheppler und Melitta Maradi

Ein Hoch auf die Wildpflanzenküche

In Naturkulinarik, Rezepte, Sammelarbeit von Melitta Maradi

Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen. Denn das Glück ist immer da.

Goethe hat bei diesem wunderbaren Gedicht sicher nicht an Wildpflanzen gedacht. Es passt jedoch sehr gut dazu. Direkt vor Ihrer Haustüre wächst eine vielfältige kulinarische Welt. Sie steht allen zur Verfügung: Es braucht den Willen, mit offenen Augen durch die Landschaft zu gehen, etwas Wissen und viel Zeit für das Sammeln und Zubereiten.

Vor nicht allzu langer Zeit, wäre der letzte Satz überflüssig gewesen. Denn die Verwendung von Wildpflanzen war eine absolute Selbstverständlichkeit, vor und während den beiden Weltkriege gar eine Notwendigkeit. So waren die frischen Blätter von Linden, Ahorn und Ulmen wichtige Vitaminquellen. Melden, zahlreiche Nesselarten, Teufelskrallen, die Früchte von Schlehen, Sanddorn, Berberitze und unzählige weitere Wildpflanzen wurden auf vielfältige Weise haltbar gemacht. Noch gab es weder ertragreiche Weizensorten, noch Importe aus fernen Ländern und auch keine hochmechanisierte Landwirtschaft.

Nach den Weltkriegen standen die Wildpflanzen nicht mehr auf dem Speisezettel. Verständlicherweise. Der Wunsch nach Wohlstand und Luxus war immens – und Wildpflanzen passen nicht dazu. Nie vergesse ich meine Grossmutter, die sich jeden Morgen ein Stück Fleisch gegönnt hat. Nicht, weil sie es brauchte, sondern weil sie es sich leisten konnte. Sie hat meine Wildpflanzenküche nicht mehr erlebt – und wenn, dann hätte sie mich garantiert für verrückt erklärt.

Wie es mit den Wildpflanzen weiterging, ist anhand der Kochbücher schnell erzählt. Ob in den Kochbüchern der 60er-, 70er- oder 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nach Wildpflanzen sucht man vergebens. Die Wende kam erst nachher: Geniale Botaniker wie Steffen Guido Fleischhauer haben Standardwerke geschaffen und in mühseliger Arbeit alles Wissenswerte über essbare Wildpflanzen zusammengestellt. Köche und Köchinnen wie der legendäre Chrüteroski oder Meret Bissegger haben wieder Wildpflanzen in unsere Küche gezaubert. Selbst in den Regalen des Detailhandels haben längst leckere Produkte aus Holunder, Sanddorn oder Bärlauch einen Platz erobert.

Was für eine herrliche Entwicklung! Heute stehen uns unendliche Möglichkeiten zur Verfügung, Wildpflanzen in der Küche zu verwenden. Sie können ein Smoothie aus Wildpflanzen mixen, weil Sie etwas für Ihre Gesundheit tun möchten. Sie können urchige Wildgerichte mit Wildpflanzen kombinieren oder Sie können ganz im Sinne der Molekularküche ein paar Aromen der wunderbaren Wildpflanzen extrahieren. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Hier ein paar konkrete Beispiele: In Butter geschenkte Blütenstände der Teufelskralle oder eine Gemüsewähe mit Sauerampfer oder ein Brotaufstrich aus den Samen des Knoblauchhederichs oder ein knackiger Frühlingssalat aus den Blättern der Linde…

Doch: Einige der rund 3’000 heimischen Pflanzen in der Schweiz sind giftig. Andere müssen besonders zubereitet werden, damit sie überhaupt bekömmlich werden. Wiederum andere sollte man stehen lassen, denn sie sind zu selten, um verzehrt zu werden. Wer sich auf die Wildpflanzen einlässt, kommt um etwas Lernen nicht herum, dazu ein Tipp: Knüpfen Sie immer an dem an, was Sie schon kennen. Zum Beispiel: Schauen Sie sich die Blüten des Raps oder des Senfes genauer an, und suchen Sie ähnliche Wildpflanzen. Sie werden rasch etwas finden, nämlich das Wiesenschaumkraut oder den Knoblauchhederich. Beide sind essbar und besitzen die leichte Schärfe, die allen Pflanzen dieser Familie – der sogenannten Kreuzblütlern – eigen ist.

Der Wildpflanze dient diese Schärfe zum Schutz vor Fressfeinden und Krankheitserregern. Denn kein Gärtner oder Landwirt gibt ihnen Wasser und Dünger oder schafft ihnen Licht. Um sich gegenüber allen Umwelteinflüssen zu behaupten, haben die Wildpflanzen zahlreiche Möglichkeiten entwickelt. So sind in allen Organen der Pflanze extrem viele Inhaltsstoffe enthalten, insbesondere auch in den Wurzeln der mehrjährigen Wildpflanzen. Bitterstoffe, Gerbstoffe, Alkaloide, ätherische Öle, Kieselsäure, Inulin etc. Die Inhaltsstoffe sind hochkonzentriert, weshalb bereits kleine Mengen an Wildpflanzen genügen ein Gericht zu verfeinern. Wer schon länger sammelt und Wildpflanzen isst, nimmt mit der Zeit zudem feine Unterschiede in den unendlich vielen Aromen wahr. Bitter ist nicht immer gleich bitter: Wermut, Schafgarbe oder Haselblätter sind zwar alle bitter, aber eben alle leicht anders.

Nebenwirkungen von Wildpflanzen? Ja, die gibt es. Falls Sie die richtigen Wildpflanzen essen und mengenmässig nicht übertreiben, allerdings nur eine: Sie werden gesünder.

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Diesen Text habe ich für den Verein Einfach Zürich im März 2020 verfasst.